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Nemo tenetur

Kein Zwang bei der Vorlage von Bankdokumenten

(Übersetzt von DeepL)

Erlaubt das Recht, sich nicht selbst zu belasten, die Nichtvorlage von Bankdokumenten, die von einer Verwaltungsbehörde unter Androhung einer strafrechtlichen Sanktion ausdrücklich verlangt werden ? Nein, antwortet der EGMR einstimmig in der Rechtssache De Legé vom 4. Oktober 2022, Nr. 58342/15.

Die Geschichte beginnt mit einem Diebstahl von Bankdaten über Vermögenswerte von in den Niederlanden ansässigen Personen, die bei einer luxemburgischen Bank deponiert waren. Durch ein Strafverfahren gelangen die belgischen Behörden in den Besitz dieser Daten und leiten sie anschließend an die niederländische Steuerbehörde weiter. Diese weist einen Steuerpflichtigen an, ihr alle Konten mitzuteilen, die er bei ausländischen Banken unterhält, insbesondere sein Konto bei der luxemburgischen Bank. Der Steuerzahler beruft sich auf Art. 6 EMRK, der es einem Verdächtigen erlaubt, sich nicht selbst zu belasten (nemo tenetur se ipsum accusare).

Trotz dieser Weigerung schätzt die Behörde die geschuldete Steuer anhand der ihr vorliegenden Unterlagen und verhängt zusätzlich eine Geldstrafe wegen mangelnder Kooperation. Außerdem ruft sie das zuständige Gericht an, damit es ihm unter Androhung einer strafrechtlichen Sanktion aufträgt, die Bankunterlagen vorzulegen. Der Steuerpflichtige kommt der gerichtlichen Anordnung nach und übermittelt der Steuerbehörde die angeforderten Unterlagen, d. h. Bankauszüge und Portfoliozusammenfassungen seines Kontos in Luxemburg.

Im Einspruchsverfahren gegen die Steuerveranlagung, das nach der Vorlage der Dokumente wieder aufgenommen wurde, vertreten die niederländischen Gerichte die Auffassung, dass der Grundsatz nemo tenetur dem Steuerpflichtigen nicht erlaubt, sich der Verwertbarkeit der der Behörde übergebenen Dokumente zu widersetzen. Denn Dokumente, die unabhängig vom Willen des Verdächtigen existieren (pre-existing documents), sind nicht durch Art. 6 EMRK geschützt. Bankunterlagen in casu existieren jedoch unabhängig vom Willen des Steuerpflichtigen. Der Steuerpflichtige kann sich daher nicht auf den Grundsatz nemo tenetur berufen.

Der EGMR, der vom Steuerzahler angerufen wurde, nutzte die Gelegenheit, um sowohl seine Rechtsprechung als auch die des Gerichtshofs der Europäischen Union zum nemo tenetur-Prinzip in Erinnerung zu rufen (siehe not. cdbf.ch/1176/). Dieser Grundsatz gilt erstens für die Voraussetzung, dass eine Person in irgendeiner Form durch eine Behörde genötigt wurde. Zweitens muss dieser Zwang entweder mit dem Ziel ausgeübt worden sein, Informationen zu erhalten, die die betreffende Person im Rahmen eines gegen sie laufenden oder geplanten Strafverfahrens belasten könnten, oder der Fall muss die Verwendung von belastenden Informationen, die durch Zwang außerhalb eines Strafverfahrens erlangt wurden, im Rahmen einer Strafverfolgung betreffen.

Der Grundsatz nemo tenetur erstreckt sich jedoch nicht auf die Verwendung von Material, das von der verdächtigen Person durch Anwendung von Zwangsmaßnahmen erlangt werden kann, aber unabhängig von ihrem Willen existiert (Ausnahme für vorbestehende Dokumente). Um festzustellen, ob diese Ausnahme anwendbar ist, leitet der EGMR aus seiner Rechtsprechung eine neue Unterscheidung ab. Wenn die Behörde die Vorlage bestimmter Dokumente anordnet, gilt die Ausnahme und Art. 6 EMRK ist keine Hilfe, um sich der Vorlage der angeforderten Dokumente zu widersetzen. Im Gegenteil : Wenn die Behörde eine Person dazu zwingt, Dokumente vorzulegen, von denen sie glaubt, dass sie existieren müssen, obwohl sie sich dessen nicht sicher ist, handelt es sich um eine fishing expedition. Diese fällt in den Anwendungsbereich des Grundsatzes nemo tenetur und ist grundsätzlich verboten.

Im vorliegenden Fall wurden die Bankunterlagen (Kontoauszüge und Zusammenfassungen des Portfolios) tatsächlich durch eine Zwangsmaßnahme erlangt, wodurch Art. 6 EMRK grundsätzlich anwendbar ist. Allerdings handelt es sich bei diesen Dokumenten um sogenannte pre-existing documents. In der Tat war sich die Steuerbehörde ihrer Existenz bewusst. Sie hat daher keine Fishing Expedition durchgeführt. Daher fallen diese Dokumente nicht in den Anwendungsbereich des Grundsatzes nemo tenetur. Der Gerichtshof kommt einstimmig zum Schluss, dass keine Verletzung von Art. 6 EMRK vorliegt.

Da der Antrag auf Verweisung an die Große Kammer abgelehnt wurde, ist diese Entscheidung endgültig.

Zur Erinnerung : Der Gerichtshof hat die Schweiz zweimal verurteilt, weil sie einen Steuerpflichtigen in einem Steuerverfahren zur Herausgabe von Dokumenten gezwungen hat (J.B. gegen die Schweiz, Nr. 31827/96 und Chambaz gegen die Schweiz, Nr. 11663/04 ; vgl. nunmehr Art. 183 Abs. 1bis DBG). Der Bundesrat seinerseits veröffentlichte 2022 einen Bericht über administrative Geldsanktionen, in dem er verschiedene gesetzgeberische Lösungen für den Konflikt zwischen der Mitwirkungspflicht im Verwaltungsverfahren und dem aus dem Strafrecht stammenden Recht, sich nicht selbst zu belasten, prüft, ohne jedoch eine allgemeine Lösung zu befürworten.

Dieses Urteil hat das Verdienst, etwas Klarheit in einen Bereich zu bringen, in dem noch immer Unsicherheit herrscht. Von nun an kann eine Verwaltungsbehörde, die von der Existenz eines Dokuments weiß, dessen Vorlage unter Strafandrohung anordnen, ohne dass der Grundsatz nemo tenetur Anwendung findet. Im Gegenteil, die fishing expedition ist nicht zulässig. Diese Unterscheidung, die unseres Wissens weder vom Bundesgericht angewandt noch von der Schweizer Lehre befürwortet wurde, könnte die Praxis verändern, wenn sie von den Juristen richtig geltend gemacht wird. Fall wird weiterverfolgt.