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Nemo tenetur

Mitwirkungspflicht und Schweigerecht

(Übersetzt von DeepL)

Erlaubt das Recht, nicht zur eigenen Strafverfolgung beizutragen, die Verweigerung der Zusammenarbeit mit einer europäischen Finanzmarktaufsichtsbehörde ? In einem Urteil vom 2. Februar 2021 (C‑481/19) befasst sich der Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) mit dieser Frage im Zusammenhang mit der Verordnung Nr. 596/2014 über Marktmissbrauch.

Die Commissione Nazionale per le Società e la Borsa (Consob), die italienische Börsenaufsichtsbehörde, verhängt gegen eine natürliche Person eine Geldstrafe in Höhe von 50’000 Euro. Diese hatte sich geweigert, die ihr von der Behörde gestellten Fragen zu beantworten. Die Consob verurteilt sie zudem wegen Insiderhandels zu einer Geldstrafe von 300’000 Euro.

Das italienische Verfassungsgericht, das mit einer Kassationsbeschwerde befasst war, stellte fest, dass gemäß Art. 30 Abs. 1 lit. b der Verordnung über Marktmissbrauch die zuständige Behörde (im vorliegenden Fall die Consob) jede Person sanktionieren muss, die sich weigert, zu kooperieren. Nach Ansicht des Verfassungsgerichts ist eine solche Verpflichtung jedoch kaum mit dem Recht auf Schweigen und der Nichtmitwirkung an der eigenen Strafverfolgung (nemo tenetur se ipsum accusare) vereinbar. Es befasste daher den EuGH mit der Klärung dieser Frage.

Der EuGH, der in großer Kammer tagt, erinnert daran, dass die Artikel 47 und 48 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union Artikel 6 EMRK entsprechen.

Art. 6 EMRK (Recht auf ein faires Verfahren) gilt insbesondere bei einer „strafrechtlichen Anklage“. Nach der Rechtsprechung des EGMR umfasst die strafrechtliche Anklage nicht nur das Strafverfahren im engeren Sinne, sondern auch jedes Verwaltungsverfahren, das zu einer strafrechtlichen Sanktion führen kann.

Der EuGH stellt fest, dass die Sanktionsbefugnisse der Consob einen repressiven Zweck verfolgen und einen hohen Grad an Schwere aufweisen (Anwendung der sogenannten „Engel-Kriterien“). Diese Sanktionen sind daher strafrechtlicher Natur. Daher findet Art. 6 EMRK in den Verfahren vor der Consob Anwendung.

Nach der Rechtsprechung des EGMR wird das Recht, sich nicht selbst belasten zu müssen, das sich aus Art. 6 EMRK ableitet, verletzt, wenn einem Verdächtigen, dem strafrechtliche Sanktionen drohen, wenn er in dem gegen ihn eingeleiteten Verfahren nicht aussagt, die verlangten Informationen nicht liefert oder wegen seiner Weigerung, dies zu tun, bestraft wird.

Der EuGH folgert daraus, dass das Recht, sich nicht selbst belasten zu müssen, einer Bestrafung einer Person nach der Marktmissbrauchsverordnung wegen ihrer Weigerung, der zuständigen Behörde Antworten zu erteilen, die sie einer mit strafrechtlichen Sanktionen bedrohten Zuwiderhandlung belasten könnten, entgegensteht. Daher darf die Consob eine Person, die sich weigert, zu kooperieren, nicht bestrafen.

Wie sähe die Lösung nach schweizerischem Recht aus ? Im Gegensatz zur Consob kann die FINMA keine Geldbusse verhängen. Sie kann jedoch verschiedene Massnahmen anordnen, wie beispielsweise ein Berufsverbot, ein Tätigkeitsverbot und die Veröffentlichung ihrer Entscheide. Das Bundesgericht ist der Ansicht, dass diese Massnahmen keine strafrechtlichen Sanktionen im Sinne von Art. 6 EMRK darstellen (vgl. insbesondere 2C_92/2019*, kommentiert in Villard, cdbf.ch/1111/). Da diese gesetzliche Bestimmung auf die Massnahmen der FINMA keine Anwendung findet, kann sich der Betroffene nicht auf den Grundsatz nemo tenetur berufen, um die Mitwirkung zu verweigern.

Ein Problem stellt sich jedoch, wenn die FINMA die zuständige Strafbehörde gemäss Art. 38 Abs. 3 FINMAG über ihr bekannte Straftaten informiert. Eine Person, die der Marktmanipulation (rechtswidrige Handlung im Sinne von Art. 143 LIMF) beschuldigt wird und mit der FINMA zusammenarbeitet, könnte anschliessend der Kursmanipulation (Straftatbestand gemäss Art. 155 LIMF) beschuldigt werden. Die überwiegende Lehre vertritt daher überzeugend die Auffassung, dass die Informationen, die die FINMA aufgrund der Mitwirkungspflicht der beaufsichtigten Person erhält, im Strafverfahren unberücksichtigt bleiben müssen (vgl. insbesondere CR CP II-Rutschmann/Lubishtani, Art. 155 LIMF N 77). Eine gegenteilige Lösung würde bedeuten, eine Person zu zwingen, sich selbst einer Straftat zu bezichtigen, was mit Art. 6 EMRK unvereinbar ist.

Der EuGH nutzt dieses Urteil, um zu betonen, dass die Rechtsprechung zum Recht, nicht zur eigenen Strafverfolgung beizutragen, je nachdem, ob es sich um eine natürliche oder juristische Person handelt, unterschiedlich anzuwenden ist. Das Bundesgericht, das von der überwiegenden Lehre kritisiert wird, ist ebenfalls der Ansicht, dass der Grundsatz nemo tenetur für juristische Personen weniger streng gilt (siehe kürzlich das Urteil 2C_342/2020 c. 2.3). Der EGMR hat sich zu dieser Frage noch nicht geäussert. Es bleibt zu hoffen, dass er bald Gelegenheit haben wird, zu entscheiden, dass das Recht, sich nicht selbst belasten zu müssen, das zum « Kern des Begriffs des fairen Verfahrens » gehört, unterschiedslos für natürliche und juristische Personen gilt.